PERSONENFREIZÜGIGKEIT: BRIEFKASTENFIRMEN AUS DEM EU-RAUM IN DER SCHWEIZ
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Source: Adrian Schmidlin, Personenfreizügigkeit: Briefkastenfirmen aus dem EU-Raum in der Schweiz, in: CH-D Wirtschaft, Handelskammer Deutschland-Schweiz, 1/2023, S. 36 f.
Wenn eine Person aus einem EU-Mitgliedstaat ein Gesuch um Erteilung einer Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Grenzgängerbewilligung stellt, prüft die zuständige Behörde, ob der Arbeitgeber in der Schweiz tatsächlich eine effektive und dauerhafte Tätigkeit ausübt. Eine bloße Briefkastenfirma in der Schweiz erfüllt die Voraussetzung für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Bewilligung nach dem Freizügigkeitsabkommen nicht. Gegenstand dieser Prüfung sind Geschäftseinrichtungen wie Niederlassungen, Filialen oder Produktionsstätten von Unternehmen aus der EU in der Schweiz, welche in der Schweiz Mitarbeiter anstellen. Die Behörden legen einen strengen Maßstab an.
Qualifiziert die Behörde den Arbeitgeber in der Schweiz als Briefkastenfirma, wird die Bewilligungserteilung verweigert und es droht der Widerruf bestehender Bewilligungen.
Ausländerrechtliche Bewilligungen und Entsendung
Das Freizügigkeitsabkommen bezweckt insbesondere die diskriminierungsfreie Einführung des freien Personenverkehrs für Erwerbstätige und Selbstständiger-werbende eines EU-Mitgliedstaats sowie die teilweise Liberalisierung der grenz- überschreitenden Dienstleistungserbringung (Entsendung), namentlich durch Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei als der Schweiz niedergelassen sind.1
Die Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- und Grenzgängerbewilligungen2 nach dem Freizügigkeitsabkommen sind keine eigentlichen Bewilligungen mit konstitutiver Wirkung, sondern bloße Bescheinigungen über ein qua Staatsvertrag beste- hendes Aufenthaltsrecht bzw. Recht auf Grenzgänger Tätigkeit bei einem Arbeitgeber in der Schweiz. Die Anstellung durch einen «Arbeitgeber in der Schweiz» ist dabei ein Wesensmerkmal.
Entsandten oder Selbstständigen einschließlich juristischen Personen aus der EU räumt das Freizügigkeitsabkommen das Recht ein, Dienstleistungen in der Schweiz zu erbringen, deren tatsächliche Dauer 90 Tage pro Kalenderjahr nicht überschreitet. Eine Kurzaufenthaltsbewilligung ist nicht erforderlich.3 Es besteht lediglich eine Meldepflicht. Eine Entsendung von Arbeitnehmern liegt vor, wenn ein Arbeitgeber in der EU Arbeitnehmer vorübergehend in die Schweiz entsendet. Für die Entsandten bleibt weiterhin ihr Arbeitsvertrag mit dem Arbeitgeber in der EU gültig.
Zeitliche Beschränkung und flankierende Maßnahmen bei der Entsendung
Im Bereich der Entsendung enthält das Freizügigkeitsabkommen restriktive Vorschriften. Die Tätigkeit ist auf maximal 90 Tage pro Kalenderjahr beschränkt. Der Gesetzgeber hat im Rahmen der Personenfreizügigkeit im Entsendegesetz4 flankierende Maßnahmen eingeführt, die Arbeitnehmer vor dem Risiko von Sozial- und Lohndumping schützen sollen. Das Gesetz verpflichtet die Arbeitgeber in der EU, die Arbeits- und Lohnbedingungen
(Mindestlöhne, Arbeits- und Ruhezeiten, Arbeitssicherheit, Nichtdiskriminierung), die in Bundesgesetzen, Verordnungen, Gesamtarbeitsverträgen (GAV) und Normalarbeitsverträgen (NAV) vorgeschrieben sind, einzuhalten. In Branchen und Berufen ohne zwingende Mindestlöhne sind grundsätzlich die orts-, berufs- oder branchenüblichen Löhne zu entrichten. Das Meldeverfahren dient den zuständigen Behörden dazu, Kontrollen gezielt durchzuführen und bei festgestellten Missbräuchen entsprechende Maßnahmen gemäß dem Entsendegesetz zu er- greifen.5
Die Motivation zur Gründung einer Briefkastenfirma liegt in erster Linie im Bereich des Ausländerrechts und dort in der Umgehung der Beschränkung von 90 Tagen pro Kalenderjahr.
«Schweizer» Arbeitgeber oder Briefkastenfirma?
Dem Freizügigkeitsabkommen nach wird für die Erteilung und Verlängerung einer Bewilligung verlangt, dass der Arbeitnehmer bei einem Arbeitgeber angestellt ist, der in der Schweiz tatsächlich eine effektive und dauerhafte Tätigkeit ausübt.
Ob der Arbeitgeber in der Schweiz eine effektive und dauerhafte Tätigkeit ausübt oder es sich bei diesem um eine Briefkastenfirma handelt und der Arbeitnehmer faktisch von einem ausländischen Arbeitgeber abhängig ist, beurteilt sich unter dem Gesichtspunkt des Rechts- missbrauchsverbots.6 Rechtsmissbrauch und damit eine Briefkastenfirma liegen gemäß dem Staatssekretariat für Migration (SEM) vor, wenn Unternehmen aus der EU «einzig» eine Geschäftseinrichtungen in der Schweiz eröffnen, um die Beschränkungen der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung zu um- gehen.7
Die Behörden stützen sich bei der Prüfung auf Kriterien, welche das SEM in seiner Weisung zur Verordnung über den freien Personenverkehr festgelegt hat und verlangen Praxis gemäß vom Arbeitgeber in der Schweiz Folgendes:8
- Eine Infrastruktur (Büros, Parkplätze und Lager), die darauf schließen lässt, dass die gemeldete Tätigkeit effektiv durch dieses Unternehmen auf eigene Rechnung erbracht wird;
- Führungskraft bzw. -team mit Weisungsbefugnis über die Arbeitnehmer in der Schweiz und mit Entscheidungskompetenz (strategische und operative Führung);
- Eigene Verwaltung (Personalabteilung, Buchhaltung und Rechnungsstellung, Sekretariat, Bewilligungen);
- Personaleinsatzplanung sowie Projektierung und Planung der Kundenaufträge;
- Arbeitswerkzeuge wie Maschinen und IT-Infrastruktur sowie Werkstoffe;
- Anmeldebestätigung der zuständigen Sozialversicherungsanstalt und Lohnabrechnungen;
- Ansässigkeitsbescheinigung des kantonalen Steueramts;
- Beschriftung der Büros und Parkplätze;
- Eigene Webseite und lokalen Telefonanschluss;
- Andere beweiskräftige Elemente.
Die Behördenpraxis wurde durch das Bundesgericht bestätigt.9
Verweigerung neuer und Widerruf bestehender ausländerrechtlichen Bewilligungen
Fehlen die genannten Elemente ganz oder teilweise und wird der Geschäftseinrichtung eine effektive und dauerhafte Tätigkeit in der Schweiz abgesprochen, kann die zuständige Behörde dem Arbeitnehmer die Erteilung oder Verlängerung der Bewilligung mit Stellenantritt bei der Geschäftseinrichtung in der Schweiz verweigern. Sind die Voraussetzungen für ihre Erteilung nicht mehr erfüllt, kann die zuständige Behörde die Bewilligung widerrufen.10 Der Arbeitgeber ist folglich auf das Verfahren für Entsandte zu verweisen. Im Kanton Zürich hat das Verwaltungsgericht erst kürzlich die Anordnung des Migrationsamts über den Widerruf und die Verweigerung von Bewilligungen aufgrund des Vorliegens einer Briefkastenfirma bestätigt.11
Was bedeutet das für die Praxis?
Ob die Geschäftseinrichtung in der Schweiz tatsächlich eine effektive und dauerhafte Tätigkeit ausübt und damit lokal in der Schweiz Personen aus einem EU-Mitgliedstaat anstellen kann, welche eine Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Grenzgängerbewilligung benötigen, ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Die geltende Praxis ist restriktiv.
Vorherrschend in der Behörden- und Gerichtspraxis ist eine formale Betrachtungsweise. Die vom SEM definierten Kriterien wenden die zuständigen Behörden bei der Prüfung an, ob eine Briefkastenfirma vorliegt. Entsprechend sind diese zu berücksichtigen.
Die formale Betrachtungsweise führt in der Praxis zu Herausforderungen. Sie wird der wirtschaftlichen Realität nicht gerecht. Bei grenzüberschreitenden Organisationsstrukturen werden administrative Tätigkeiten zentralisiert oder an Dritte ausgelagert (z.B. Personalabteilung, Informatik oder Buchhaltung). Die Ländergesellschaften profitieren von konzernweitem Know-how, Kundenprojekte werden global akquiriert und geplant, Führungsteams übernehmen Funktionen in mehreren Ländergesellschaften, die strategische Führung wird zentral wahrgenommen und Entscheide werden länderübergreifend implementiert (z.B. Marketingstrategie). Ist die Geschäftseinrichtung in der Schweiz Teil einer grenz- überschreitenden Organisationsstruktur und profitiert sie von zentralen Leistungen innerhalb der Struktur, kann ihr dies im Rahmen des ausländerrechtlichen Be- willigungsverfahren zum Vorwurf einer Briefkastenfirma gemacht werden.
Steht der Markteintritt in der Schweiz bevor und ist die Anstellung von Person aus einem EU-Mitgliedstaat beabsichtigt, müssen frühzeitig Vorkehrungen und damit verbundene Investitionen getätigt werden, damit die Behörde eine effektive und dauerhafte Tätigkeit in der Schweiz anerkennt und der Verdacht einer Briefkastenfirma nicht aufkommt. Bereits bestehende Geschäftseinrichtungen müssen im Hinblick auf die Einreichung eines Gesuchs um eine ausländerrechtliche Bewilligung ihre effektive und dauerhafte Tätigkeit in der Schweiz hinterfragen. So können böse Überraschungen bei der Personalbeschaffung im Rahmen der Personenfreizügigkeit vermieden werden.
- Art. 1 lit. a bis c Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft (heute Europäische Union [EU]) und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA) und Art. 3 Anhang I FZA. Für die Entsendung siehe Art. 5 FZA und Entsendegesetz, EntsG.
- Kurzaufenthaltsbewilligung L, Aufenthaltsbewilligung B und Grenzgängerbewilligung G (Art. 6 und 7 Abs. 1 Anhang I FZA).
- Art. 5 Abs. 1 FZA und Art. 17 ff. Anhang I FZA.
- Bundesgesetz über die flankierenden Maßnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (Entsendegesetz, EntsG).
- Für weiterführende Informationen https://entsen- dung.admin.ch.
- Urteil des Bundesgerichts 2C_264/2020 vom 10. August 2021 E. 4.3.2. und Entscheid des Verwaltungsgerichts Zürich VB.2022.00184 vom 16. Juni 2022 E. 4.3. Der Rechtsmissbrauch muss offensichtlich und entsprechend durch die Behörde nachgewiesen sein. Nach ständiger Rechtsprechung sind solche Fälle nur mit Zurückhaltung zuzulassen (Urteil des Bundesgerichts 2C_1041/2019 vom 10. November 2020 E. 6.3 mit Hinweisen auf den Gerichtshof der Europäischen Union [EuGH]).
- vgl. zum Ganzen Staatssekretariat für Migration (SEM), Weisungen und Erläuterungen zur Verordnung über den freien Personenverkehr (Weisungen VFP), Stand Januar 2023, Ziff. 4.2.1 und 5.3.5.1. und zur Verbindlichkeit der Weisungen VFP das Urteil des Bundesgerichts 2C_264/2020 vom 10. August 2021 E. 4.3.1.
- Weisungen VFP, Ziff. 4.2.1 und 5.3.5.1 a).
- vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_264/2020 vom 10. August 2021.
- Art. 23 Verordnung über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union und deren Mitgliedstaaten, zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation.
- Entscheid des Verwaltungsgerichts Zürich VB.2022.00184 vom 16. Juni 2022.